Durch eine Diskussion auf Discord bin ich dazu angeregt worden, meinen aktuellen Blick auf PbtA mal zusammenzuschreiben. Zunächst schreibe ich ein paar einleitende Gedanken. Sie werden mir später helfen, meine Faszination für PbtA genauer auszudrücken. Außerdem werden immer wieder Aspekte des Spiels gelobt, die meiner Meinung nach gar nichts mit PbtA zu tun haben. Dafür muss ich aber etwas ausholen. Ihr könnt die ersten Abschnitte also gerne überspringen, wenn Euch die Theorie nicht interessiert und ihr nur das Fazit für PbtA lesen wollt.
Was macht Rollenspiel aus?
Wie ihr sicher wisst, gibt es viele Aspekte, die unser Hobby ausmachen. Ich will ja auf die Betrachtung eines Systems hinaus, daher denke ich besonders an die Zweiteilung zwischen gamistischen und simulationistischen Elementen einerseits: Werte, Token, Spezialfertigkeiten, taktische Elemente. Also alles, was mit “gewinnen wollen” zu tun hat. Und auf der anderen Seite: Erzählung, Beschreibungen, Musik, Handouts, Ton, Stimmung. Also alles, was mit den Gefühlen, Erwartungen, inneren Bildern und Vorstellungen am (virtuellen) Tisch zu tun hat.
Gemeinsamer Vorstellungsraum
Ich vereinfache etwas, aber für den zweiten Aspekt gibt es einen Begriff aus der Rollenspieltheorie, der sich Shared Imagined Space (SIS) nennt. Ich übersetze das hier mit “Gemeinsamer Vorstellungsraum”.
Die Diskussionen zu diesem Thema drehen sich meist darum, was alles dazugehört und wie er entsteht und wie Rollenspiel “vor unseren inneren Augen” eigentlich abläuft. Das ist für die Betrachtung von PbtA eigentlich nur in ein paar Punkten wichtig: Genrekonventionen, der Ton (ernst, albern, episch) der Runde, Konsistenz von Ereignissen und der dargestellten Welt spielen eine Rolle. Aber alle Techniken, Gewohnheiten und gruppendynamischen Prozesse am Tisch, die eine bestimmte Stimmung erzeugen, gehören grundsätzlich dazu.
Erzählerischer Konflikt und Regeln
Grundsätzlich klappt das mit dem gemeinsamen Vorstellungsraum umso besser, je harmonischer die Gruppe ist. Wenn alle zu jedem Zeitpunkt die gleiche Vorstellung von einer Szene hätten, bräuchte man keine Regeln, um die Geschichte zu erzählen. Wenn jeder am Tisch wüsste, dass in dieser Szene ein Charakter sterben muss, durch die Hand ihrer Geliebten, dann kann ich die Szene einfach episch schildern und alle sind zufrieden. Dann gäbe es keinen erzählerischen Konflikt. Wer bei diesem Satz kurz gestockt ist, der hatte wohl doch einen anderen Vorstellungsraum als ich.
Außerdem beraube ich dem Spiel damit jede gamistische und simulationistische Komponente, was vom Spieldesign her vielleicht gar nicht gewünscht ist und auch nicht für jeden Spielertypen befriedigend wäre.
In der Praxis wird der gemeinsame Vorstellungsraum fortlaufend am Tisch “verhandelt”. Es gibt Techniken und Hilfsmittel, die den Vorstellungsraum der Mitspielenden verändern. Das passiert über Beschreibungen, Gestik, Mimik, Stimme etc. Und kann eben auch über Regeln erfolgen.In allen Rollenspielen gibt es: Denn Moment von Bedeutung, in dem der Fortgang der Geschichte unsicher ist. Der gemeinsame Vorstellungsraum sich also in sehr verschiedene Richtungen entwickeln kann. Meist setzen genau hier die Regeln an. Aber dazu später mehr.
Rollenverteilung am Spieltisch
In klassischen Rollenspielen (beispielsweise D&D, DSA, Splittermond etc.) war die Verantwortung für den Vorstellungsraum genau definiert. Die Spielleitung erschafft die Welt, beschreibt Nichtspielercharaktere (NPC) und ihre Reaktionen etc. Die anderen Spielenden konzentrieren sich auf ihre Charaktere und interagieren mit dieser Welt.
Klassischerweise gab es für die gamistischen und simulationistischen Teile des Spiels Regeln, für alles andere nicht. Hinweise zu dem, was Rollenspiel eigentlich über das gamistische hinaus ausmacht, wurde meist eher in Sekundärliteratur, Foren und Zines diskutiert. Das ist schon mal ein Thema, was moderne Systeme (und Editionen) und speziell PbtA sehr viel besser machen.
Diese Rollenverteilung wurde spätestens seit der Jahrtausendwende bei vielen Spielen aufgebrochen. Für viele waren die Teile des Spiels, die nicht geregelt waren, sehr viel wichtiger geworden, als der gamistische Teil. Es kam zur unleidliche und vielfach beschämende Diskussion, was eigentlich “richtiges” Rollenspiel sei. Das vergessen wir am besten gleich wieder…
Was aber daraus entstanden ist: Regeln, die Erzählrechte am Tisch neu verteilen. Regeln, die es allen am Tisch ermöglichen, auf die Welt und die aktuelle Szene einzuwirken. Befreiend, für den inneren Storyteller, oft aber auch mit einem höheren Anteil Metagaming verbunden. Metagaming im Sinne von Spiel auf Ebene der Erzählung und außerhalb des Charakters. Hier wurde also die Entstehung des gemeinsamen Vorstellungsraums mehr in Regeln gepackt. Es wurde in Bereiche eingegriffen, die bisher nur der Spielleitung vorbehalten waren. Dabei entstanden auch neue gamistische Elemente: Fate- oder Schicksalspunkte, Entscheidungskarten etc.
Was hat das mit PbtA zu tun?
Ich zitiere in den Folgenden Abschnitten immer wieder Aussagen von Frank Tarcikowski, der über Rollenspieltheorie deutlich mehr weiß als ich und auch die Diskussionen auf “The Fordge” aktiv begleitet hat (wen es interessiert: http://www.indie-rpgs.com/forge/index.php), im Gegensatz zu mir. Wir hatten 2019 in einem gemeinsame Diskussion zu dem Thema, die mich später noch sehr beschäftigt hat.
Vincent und ich wollten beide ein erzählerisches System schreiben, bei dem es wirklich darauf ankommt, was gerade in der Spielwelt passiert. Ein System, das es erfordert, sich ein wirklich plastisches Bild von den Ereignissen und Situationen (was wir Forger SIS, Shared Imagined Space, nannten) zu machen, weil nur auf dieser Grundlage das weitere Geschehen verhandelt wird.
Bei der Entstehung von Apocalypse World war der zentrale Punkt also genau der Moment der Entscheidung. Der Moment, in dem der gemeinsame Vorstellungsraum neu verhandelt wird. Was finde ich im Ergebnis gut und was kann man problematisch finden?
Vincents Ansatz war, Regeln zu entwerfen, die bei jeder Regelanwendung den SIS ein kleines bisschen ausbauen oder transformieren. Dazu gibt das System dir immer einen kleinen Stubs, meistens ein paar Varianten zur Auswahl, die du dann auch noch ein bisschen “anreichern” musst. Und daran hangelst du dich dann lang, es ist also immer eine Wechselwirkung aus dem, was das System vorgibt, und dem, was du draus machst. Es ist immer ein Anteil Improvisation und ein Anteil Versatzstück dabei.
Das ist es wahrscheinlich, was bei vielen das Gefühl erzeugt, dass PbtA die Geschichte vorantreibt. Gleichzeitig aber auch oft das Gefühl erzeugt, in der eigenen erzählerischen Freiheit beschnitten zu werden.
Play to find out…
In PbtA greifen die Würfel und Spielzüge in den gemeinsamen Vorstellungsraum ein. Die Regeln verlangen, dass sich der Vorstellungsraum den gewürfelten Ergebnissen anpasst. Dabei wird normalerweise nicht über die einzelne Aktion des Charakters entschieden, sondern über eine Szene oder eine Reihe von Ereignissen.
Wichtig: In PbtA wird meist gewürfelt, wenn ein Charakter eine bestimmte Handlung in der Erzählung beschreibt. “Wenn der Charakter XYZ tut, würfele +ABC”. Dabei nimmt PbtA keine Wertung vor. Es kann also auch vorkommen, dass sich alle am Tisch über den weiteren Verlauf der Szene einig sind, die Würfel aber total blöd fallen und etwas ganz anderes verlangen.
In den meisten PbtA Spielen gibt es ein Agende. Eine Darstellung davon, was die Autorin oder der Autor von dir will. In fast allen habe ich gelesen: “ Spiele, um herauszufinden was passiert.” Erstmals habe ich persönlich das in der deutschen Ausgabe von Dungeon World gelesen:
Ihr werdet gemeinsam erleben, wie die Charaktere reagieren und die von dir [der Spielleitung] dargestellten Welt verändern. Ihr werdet alle Teilnehmer eines großen Abenteuers. Also plant nicht zu viel im Voraus. Denn dann werden dir die Spielregeln einen Strich durch die Rechnung machen. Der Spaß wird sein, sich von der Entwicklung der Dinge überraschen zu lassen.
Das ist der zentrale Unterschied zu den meisten anderen Systemen, die ich kenne: Die Würfel verhandeln den gemeinsamen Vorstellungsraum mit.
Das Gute daran ist, dass alle am Tisch immer dazu gezwungen werden, der Szene etwas hinzuzufügen, Entscheidungen zu treffen und die Erzählung zu erweitern. Der Nachteil ist, dass die Ergebnisse des Wurfs manchmal der eigenen Vorstellung widersprechen und damit Erwartungen enttäuschen.
Play to find out… gilt halt in PbtA nicht nur für die Spielleitung, sondern für alle am Tisch. Für mich fühlt sich das meist frisch, überraschend und herausfordernd an. Das muss man aber nicht mögen.
Bedeutung der Spielzüge
Den Spielzügen kommt in PbtA deshalb eine so entscheidende Rolle zu, weil Sie eben den Vorstellungsraum mitgestalten. Hier entscheidet sich, ob das Spiel was taugt oder nicht. Die Spielzüge transportieren Genrekonventionen und wirken damit auf den Ton der Runde ein. Sie können gut aufeinander abgestimmt sein und damit automatisch Reaktionen bei anderen Spielern oder der Spielleitung auslösen. Sind sie gut getestet und auf das Designziel des Spiels abgestimmt, fördert das ein sehr einfach reproduzierbares Spielerlebnis. Dann fühlt sich eine Runde Monsterhearts wie eine Runde Monsterhearts an und nicht wie Monster of the Week oder Hearts of Wulin.
Wenn die Spielzüge was taugen, dann hilft das auch bei der Verteilung der Spotlights, weil eben ein Spielzug zum nächsten führt und damit auch der Job der Spielleitung sehr viel einfacher wird. Mit guten Spielzügen fühlt sich das Würfelergebnis häufiger stimmig und passend an und wird als Inspiration erlebt. Bei schlecht getesteten PbtA Spielen kommt es dagegen vor, dass sich alle am Tisch fragen: Was sollte das denn jetzt?
Spielzüge als Würfelmechanik
Natürlich kann ich PbtA auf die Würfelmechanik reduzieren und wenige einfache Spielzüge mit einem Baukasten an Sonderspielzügen kombinieren. Ich kann also Spielzüge im Baukastensystem anbieten. Damit schaffe ich dann ein einfaches Improvisationsspiel. Es bleibt die Überraschung am Würfelergebnis und die grundsätzliche Einstellung zu “Play to find out…”. Ich nehme dem Spiel aber viel damit. Eine gute Balance der Spielbücher und das gegenseitige triggern von Reaktionen kann ich persönlich mir da nicht vorstellen. Überzeugt mich aber gerne vom Gegenteil. Das wäre ein wahrhaft bemerkenswertes Spiel.
Befreiung des gemeinsamen Vorstellungsraums
Warum betrachten wir PbtA oft als befreiend, besonders, wenn wir es aus der Perspektive klassischer Systeme (D&D oder DSA) betrachten?
Das kommt vor allem dann vor, wenn wir im Rollenspiel freiere Erzählung bevorzugen: Exploration, soziale Interaktion, Darstellung von Gefühlen, Drama etc. Laws würde sagen: Wenn wir eher Method Actor und/oder Storyteller sind (siehe https://de.wikipedia.org/wiki/Rollenspieltheorie#Spielertypen_nach_Robin_Laws). Solche Spielertypen fühlen sich dann durch viele gamistische und simulationistische Regeln klassischer Systeme gestört.
Dabei ist es eher Zufall, dass hier PbtA hergenommen wird. Es ist in den letzten Jahren halt der heiße Scheiß und wird von einigen starken Communities stark gefördert. Vor ein paar Jahren wäre es vielleicht FATE gewesen.
Um nochmals Frank zu zitieren:
Der grundlegende Ablauf, wie wir im klassischen Rollenspiel den SIS verhandeln, ist gut so, wie er ist. Er funktioniert wunderbar auch für ganz freie und erzählerische Runden, und führt ganz automatisch dazu, dass der SIS sauber verhandelt wird, weil ich ja, um den von Jason beschriebenen [http://www.lumpley.com/index.php/anyway/thread/432%E2%80%9C] Punkt der Unsicherheit” (Vincents “Moment of Judgment”) zu identifizieren und dann die notwendige Beurteilung vorzunehmen, eine recht gute Vorstellung davon haben muss, was da eigentlich gerade vor sich geht.
Soll heißen: Je besser Spielleitung und/oder Gruppe darin sind, eine Szene darzustellen, aufzubauen und zu beschreiben, desto einfacher ist es, zu einer gemeinsamen Vorstellung zu gelangen. Ich brauche dafür gute Kommunikation, eine klare Agenda und klar formulierte Prinzipien. Ein klares Spielziel also, mit dem alle am Tisch mitgehen. Das erreichen wir aber auch über eine (oder mehrere) gute Session 0.
PbtA erzwingt das! Die Spielzüge unterstützen, regen an und inspirieren, wenn sie gut gemacht sind. Das ist besonders für Gruppen interessant, die sich nicht gut kennen. Für One Shots und Cons. Für spontane Runden. Und – Überraschung – die meisten PbtA Spiele sind genau darauf ausgerichtet.
In eingespielten Gruppen mit sehr ähnlicher Agenda muss ich das gar nicht über Regeln erreichen. Hier reicht es, das Spiel möglichst von allem zu befreien, dass in den Augen dieser Gruppe unnötig ist und den Erzählfluss stört. Perfekt wird es, wenn die übrig gebliebenen Regeln zum Spielziel der Gruppe passen. Für mich persönlich wären das z.B. das Ausreizen des eigenen Glücks bei Broken Compass oder das Stresssystem bei Alien oder die Inventarregeln bei Knave (Mausritter) etc.
Fazit
Die Ausgangsfrage, die mich in diesen Thread gezogen hat, lautete: Ist PbtA das Allheilmittel?
Ich denke es ist klar geworden, dass meine Antwort darauf lautet: Nein!
Selbstverständlich ist es das nicht, wenn Du Spaß an gamistischem oder simulationistischem Spiel hast. An herausforderungsorientiertem Spiel. Wenn Du im Rollenspiel irgendwie auch das Bedürfnis hast, gewinnen zu wollen. Das macht PbtA meiner Meinung nach echt schlecht.
Aber auch, wenn Du in einer Gruppe spielst, die eine gefestigte Agenda, klare Spielprinzipien und ein gemeinsames Spielziel hat, muss PbtA nicht die beste Wahl sein. Wenn Eure Runde einen begnadeten Erzähler als Spielleitung hat und es euch viel Spaß macht, einem gut vorbereiteten Plot zu folgen, dann kann PbtA echt nerven.
Auf der anderen Seite haben viele PbtA Spiele meinen Blick auf das Hobby stark geprägt. Hier habe ich überhaupt erstmals von einer klaren Agenda und Prinzipien gelesen. Das war bis zur Jahrtausendwende echt nicht üblich. PbtA kann inspirieren und einen tollen Rahmen bieten. Gute Spielzüge sind einfach eine Freude und machen am Spieltisch total viel Spaß.
Mir als Spielleitung erleichtert PbtA natürlich die Arbeit. Wenn Du, wie ich, nicht besonders gut darin bist, den perfekten Plot vorzubereiten, dann ist PbtA natürlich eine totale Befreiung. Ich glaube daher auch, dass ich von PbtA daher so begeistert bin, weil ich gut in Improvisation und Charakterspiel bin. Worldbuilding und Plotstrukturen gehören dagegen nicht so zu meinen herausragenden Fähigkeiten.
PbtA ist auch sehr gut darin, Genrekonventionen und Ton in einer Runde zu etablieren. Dabei unterstützen auch wieder die Spielzüge sehr gut.
Wenn Ihr Spiele sucht, die euren Vorstellungsraum nicht stören, eure Erzählung befreien und die Geschichte vorantreiben, dann schaut euch gerne auch Spiele an wie: Broken Compass, Dread oder Kids on Bikes an. Da gibt es viel zu lernen. Wenn ihr lieber ein wenig gamistischer unterwegs seid, dann lohnt sich ein Blick in Beyond the Wall, The Troubleshooters und Dungeon Crawl Classics.